Vermutlich lebt G gar nicht mehr

Notizen aus der poetischen Tiefebene
von Bernhard Huber

Nachfolgender Hilferuf geriet eher zufällig in meine Hände. Ich widmete mich eines Tages im Weißen Bräuhaus in Mün­chen dem Weißwurstfrühstück. Ein reichlich verbraucht wirken­der Mann stand vom Nebentisch auf, um zu gehen. Als er sich die Jacke anzog, fiel ein abge­griffenes Oktavheft­chen zu Boden. Ich wollte ihn darauf aufmerksam ma­chen. Dabei ver­schluckte ich mich lei­der an einem Bre­zenstück, so dass ich heftig loshustete. Mein Versuch, ihn noch einzuholen, schlug fehl. Das Heftchen ist mit allerlei Notizen vollgekrit­zelt, die je­doch keinen Hinweis auf den Eigentümer enthalten. Mit einiger Mühe konnte ich die krake­lige Schrift entzif­fern. Was sich mir dar­bot und was ich hiermit der Öffentlichkeit darbiete, hat mich zutiefst erschüttert.

Warum nicht einfach ein paar Wörter zu einer lyrischen Aussage über die totale Sonnenfin­sternis, die jüngst (am 11. August 1999) in unseren Breiten zu sehen war, aneinan­derreihen, wie sich das für einen wie mich eigentlich gehören würde? Da ist ein sel­tenes Natur­schauspiel – Welch’ wunderbare Metapher! – zu beobachten, aber einen wie mich lässt das litera­risch gesehen kalt! Das ist natürlich etwas übertrieben. Aber ich kann nun ein­mal nichts dazu schreiben. Ich verspüre näm­lich den viel stärkeren Drang in mir, eine banale Begeben­heit zu notieren, die sich – unter Zeugen – neulich in der S-Bahn zugetragen hat.

Noch mehr bedrängt mich allerdings die Frage, ob eine Person namens „B. Dylan“, die sich in das Gästebuch der Schack-Galerie in München mit den Worten „Let me be in your dream, and I let you be in mine“ eingetragen hat, identisch ist mit dem berühmten Bob Dylan. Da­von gehe ich an sich ohne jeden Zweifel aus. Aber eine gewisse Unsicherheit – nett: „gewisse Unsicherheit“! – bleibt trotzdem. Auf alle Fälle habe ich mich nicht davon ab­halten lassen, es ein paar Seiten später jenem B. Dylan gleichzutun und Erhebendes wie -bauliches in die Kladde einzutragen. Ich verzichte darauf, meinen Sinnspruch hier wiederzu­geben, weil er nicht hierher passt. Wer dennoch interessiert ist: Die Schack-Galerie ist der Öffentlichkeit zugänglich. Und B. Dylan weit weg.

Aber verflixt nochmal, wo ist meine Ergriffenheit über die Sonnenfinsternis, die mich doch befallen sollte, wenn man den vielen Berichten glauben darf, die im Vorfeld dieses Er­eignisses zuhauf erschienen sind? Warum versage ich als Dichter, wenn ich den läppischen zwei Minuten totaler Sonnenfinsternis ein lyrisches Denkmal setzen soll? Dabei hatten wir von unserem Garten aus einen wunderbaren Blick zur Sonne. Ja, in den zehn Minuten vor der Totalität machte sich in mir durchaus Nervosität breit. Würden sich die Wol­ken noch rechtzeitig verziehen? Sie haben sich rechtzeitig verzogen, und der Ausblick war, wie gesagt, ungetrübt von Wolken und Wölkchen jeder Art.

Apropos Wolken: Die liebe ich! Von diesen amorphen Gebilden bin ich, sehr im Unter­schied zur „Sofi“, wie wir Insider die Sonnenfinsternis nennen, ergriffen. Gerade an diesem Tag der Sofi waren die Wolken ganz besonders interessant. Wenn man überdies schon die Sofi als Naturschauspiel bezeichnet, und zwar nur, weil sie so selten ist, dann verdienen die Wolken dieses Etikett erst recht. Denn jede ihrer Formen ist inspirierend und einzigartig! Niemand kann ihre Form vorhersagen im Gegesatz zum Verlauf einer totalen Sofi.

Es war natürlich besonders herzig, die Sonnenfinsternis „Sofi“ und die speziellen Sonnen­finsternisbrillen Sofi-Brillen zu nennen. Wie niedlich! Doch, ja. Sowas nimmt der Wirklich­keit ihren Ernst und ihre Erdenschwere. Sofi, das Naturschauspiel in sieben Phasen, verfasst von Gott, dem Herrn über Himmel und Erde, am 11. August 1999, Höhepunkt über Mün­chen von 12.37 bis 12.39 Uhr. Entsprechend steht schon im Buch Jesus Sirach im Alten Te­stament: „Die Sonne geht auf und erglänzt in vollem Licht, ein staunenswertes Gestirn, das Werk des Höchsten.“ (Kapitel 43, Vers 2) Eigentlich sollte der Finanzminister ähnlich ver­fahren und die mittelfristige Finanzplanung „Mifrifi“ nennen, um die Akzeptanz seiner Poli­tik zu erhöhen. Aber wie ich gelesen habe, kursiert dieses Kürzel bereits. Zu den Sofi-Brillen wäre nur noch folgendes anzumerken: Wieso haben immer die anderen die Ideen, die einen quasi über Nacht zum Millionär machen? Ein weiteres ungelöstes Rätsel der Menschheit.

Glücklicherweise ist die Sofi in die zeitliche Nähe zum Jahrtausendwechsel, den jeder un­geachtet des drohenden Untergangs des humanistischen Gymnasiums „Millennium“ nennt, gleichwohl aber falsch „Millenium“ schreibt, gelegt worden. Dadurch ließ sich so herrlich vorhersagen, die Welt würde untergehen. Nun, sie steht noch. Allerdings hat niemand daran gedacht, dieses Jahr der Sofi mit Gs 250. Geburtstag in Verbindung zu bringen. Als ob das nicht auch vermarktbar wäre!

Nun ist mir G einigermaßen egal. Nicht aus Arroganz, sondern aus Notwehr. Ich habe G im­mer nur kennengelernt als jemanden, der fehler- und makellos, kurz so unfehl­bar war, wie zu sein kein Papst je wagen würde. Eine Walze, die jede andere Literatur für alle Zeiten plattgemacht hat. Wenn das kein Grund ist, sich der Rezeption Gs zu verweigern! Dann schon lieber B. Dylan le­sen: „Let me be in your dream…“

Jedenfalls findet eigens im Jahr seines 250. Geburtstages ausgerechnet über Deutschland eine totale Sofi statt! Er wird wohl doch unfehlbar sein.

Manche Menschen leben ihr Leben, wenigstens hat es diesen Eindruck, nur für ihren Le­benslauf, um Bewerbungen möglichst deftig würzen zu können. Und G kann nur für seine Biographie gelebt haben. Wer würde sonst so viele Briefe schreiben? Jedes noch so winzige Alltagserlebnis wird zum endskrassen Megaevent aufgeblasen. Aber G muss sich vorsehen! Der kleine Mond reicht aus, um eine ganze Sonne zu verdunkeln.

Trotzdem: Vor G gibt es ein­fach kein Entrinnen. Es genügt nicht, dass er massenweise Gedichte und den Faust ge­schrieben hat. Er begegnet einem auf Schritt und Tritt, sogar in der Neuen Pinakothek, protzig ein­gerahmt und sehr von sich eingenommen. Ich bin natürlich an unserem Dichterfür­sten vorbeigewischt und habe statt dessen ohne Umwege Spitzwegs „Armen Poeten“ aufge­sucht. Der kennt keine herrschaftliche Pose und ist nur in seine Dicht­kunst vertieft.

Sogar das Leuchten des Mondes ist interessanter als die Sonne. Denn dieses Gestirn leuchtet, obwohl es gar nicht leuchten kann. Darüber sollte G mal nachdenken. Ande­rerseits: Kein Mensch wird 250 Jahre alt. Vermutlich lebt G gar nicht mehr.

Ich muss feststellen, dass die Verbindung G-Sofi inniger ist, als ich ahnen konnte – und wollte. Ein Foto im „Stern“ (Nr. 35, 26.8.1999) trägt die Unterschrift: „Sonnenfinsternis vom Strassburger Münster, das G liebt, wie den Vollmond“. Ist zwar sehr gedreht, nährt aber den Verdacht, dass nicht einmal Naturschauspiele ohne G statt­finden dürfen. Die „Süddeutsche Zeitung“ drückt das (in einem Leitartikel!) etwas vor­sichtig aus: „Ein Ge­burtstag wie dieser ähnelt der kürzlich con moto begangenen Sonnenfin­sternis darin, dass man auch bei ihm vermuten kann, manch einer unter uns könnte Ver­gleichbares nicht mehr erleben.“ Ist G Gott? Um es auch dem letzten ignoranten G-Fan klar und deutlich zu sagen: Nein!

Man bemüht sich schon sehr, ihm diesen Nimbus zu verleihen. Paradoxerweise auch die­jenigen, die unseren Oberdichter entglorifizieren, ihn quasi alltagstauglich machen wollen. Es ist natürlich ehrenwert, normalsterblichen Hubermeiermüllerschulzes zu sagen, dass auch Genies ordinäre Menschen sind. Doch für den nor­malsterblichen Dichter wäre das katastro­phal! Solange G abgehoben vor sich hin­schwebt, lässt man uns in unserer künstlerischen Un­zulänglichkeit gewähren. Man hat wenigstens gönnerhaftes Verständnis dafür, dass – zum Glück – nicht jeder ein G sein kann. Aber wenn er so ganz alltäg­liche Dinge wie Essen und Trinken und das Gegenteil so alltäglich verrichtet, wie wir es tun, können wir einpacken. Je höher G schwebt, desto besser für uns. Außerdem lässt uns das hoffen, dass er vielleicht ir­gendwann ganz entschwebt, wie sich das eigentlich gehören würde.

Ich ringe mit mir, ob ich der Neuen Pinakothek nicht einen weiteren Besuch abstatten sollte, um mir das G-Portrait von Joseph Karl Stieler, welches ich letztes Mal ver­schmähte, um Spitzwegs armem Poeten den Vorzug zu geben, genauer anzusehen. Ich habe zwar einen Katalog der Pinakothek zu Hause, in dem dieses Gemälde farbig wiederge­geben ist. Aber der unmittelbare Eindruck ist durch nichts zu ersetzen. Allerdings erkenne ich genug, um sagen zu können, dass mich G in seinem Bratenrock an „Moshammer Rudolph Carnaval de Ve­nise“ (lt. Eintrag im Telefonbuch) erinnert. Denn Herr Carnaval de Venise Mosham­mer mag zwar ein berühmter Herrenausstatter sein, aber, wie ich jüngst wieder ein­mal Fern­sehbildern entnehmen konnte, ich habe das Gefühl, was er trägt, passt ihm nicht. Die Sakkos ziehen an den unmöglichs­ten Stellen Falten, weil sein stattlicher Bauch nach Freiheit lechzt. Der Stie­ler-G sitzt wohl deshalb so verdächtig steif in seinem Bild. Der ge­strenge Ge­sichtsausdruck des Meisters muss also keineswegs Weltabge­wandtheit be­deuten. Viel eher drückt es Leiden an unmenschlichen Kleidervor­schriften aus. Er könnte ei­nem fast leid tun, der Herr G. An­dererseits: Niemand hätte ihn, den Dichterfürsten schlechthin, zwingen können, sich in zu enges Tuch zu zwängen. Wenn er’s dennoch tat, so tat er’s folglich freiwillig. Also soll der Schöpfer der „Leiden des jungen Werthers“ ruhig auch ein bisschen vor sich hin leiden.

Wie ist es überhaupt möglich, dass aus einem Menschen, der als Knabe namens G zur Welt kommt, der G schlechthin wird? Man müsste mal mit ein paar heute lebenden Gs spre­chen.

Der Vollständigkeit halber werfe ich die Frage auf, weshalb die Wochenzeitung „Das Parlament“ punktgenau zum 250. G-Geburtstag eine ganze Ausgabe (sogar eine Dop­pelnummer!) dem 50. Geburtstag der – jawohl! – Volksrepublik China widmet. Herzlichen Glückwunsch zu diesem Mut!

G ist Maggi ist Knorr ist Pfanni ist BMW ist Pampers ist Marlboro ist Coca Cola: Man sagt G, wenn man Kultur meint, wie man Tempo sagt, wenn man Papiertaschen­tücher meint. G ist zu einem Markennamen erstarrt. G braucht keinen Vornamen. „Faust von G“ reicht ein für allemal aus. Oder die „Farbenlehre“. Man hört das Wort „Farbenlehre“, und sofort asso­ziiert man damit G, so wie man Relativität mit Einstein asso­ziiert. Aber ist glori­fiziert zu werden eine Leistung, die man selbst für sich verbuchen kann? Eben. Derlei erle­digt die Mit- sowie im Gefolge die Nachwelt.

Natürlich ist schon die Wahl der Vornamen Johann Wolfgang genial, ein prägnantes G und später noch ein neckisches „von“ dazu – da kann ein „Michael Jackson“ kaum mithalten, der übrigens ohne seinen „Michael“ als schlichter Jackson ziemlich nackt dastehen würde. Nicht so G! Welche Aura gießt dieser Name sogar auf den aus, der ihn, vielleicht mit einem Hauch weihevollen Tim­bres, um den Kenner zu sugge­rieren, einfach nur ausspricht.

Darf man sich G als Schüler vorstellen? Bei einem Universalgenie eigentlich eine Unver­schämtheit. Der Name G müsste schon damals jedem Lehrer einen Schauer über den Rücken gejagt haben. Versuchen wir’s trotzdem! Selbstverständlich nicht als Volksschüler, son­dern als Gymnasiasten der Oberstufe, Leistungskurs Deutsch. Ob es ein Lehrer je gewagt hätte zu ta­deln: „G, aus Ihnen wird nie was Gescheites werden!“ Oder: „G! Bis zur nächsten Stunde analysieren Sie die poetische Struktur des Erlkönigs und erläutern, wes­halb diese Ballade den Höhepunkt der deutschen Romantik markiert.“
Aus heutiger Sicht gilt, dass der Name G die gesamte Menschheitsgeschichte durchtränkt. Es ist doch für jeden Kunstbeflissenen undenkbar, dass die Geschichte mit und um G bislang nur läppische 250 Jahre gewährt ha­ben soll. Es muss G schon irgendwie vorher gegeben ha­ben. Aber wie? Das ist natürlich so eine Sache. Aber einem Genie traut man eben alles zu. Ich auch.

Man müsste sich mit heute lebenden Gs unterhalten, wie es sich mit einem solchen Na­men wohl lebt.
„Ich möchte für heute Abend zwei Karten reservieren.“
„Gerne. Auf welchen Namen bitte?“
„Goethe.“
„Und Sie wollen in Faust gehen?“

Es ist undenkbar, dass je­mand mit dem reizenden Namen Milchrahm, der meine Vorfah­ren zierte, Pfannstiel o.ä. be­rühmt wird. Aber noch schlechtere Chancen hat der, der G heißt und im Jahr des 250. Ge­burtstags der gleichnamigen Marke einen Roman veröffentlichen will. Als G kannst du heute nicht Schriftsteller werden. Der Name G ist ein für allemal ver­geben. Da heißt man schon besser Huber, Meier, Müller, Schmidt, Schulze oder Haber­stumpf.

Alleine schon aufgrund der Tatsache, dass sich über die Jahre hinweg Myriaden von An­gehörigen der hominiden Lebensform diesseits und jenseits des Äquators zu G geäußert ha­ben, ist es unmöglich, dass jemand hergeht und sagt, G wäre ein miserabler Schrift­steller gewesen. Alle Bildungsbeflissenen sprängen einem mit dem nackten Arsch ins Gesicht. Auch ich halte mich bei Pauschalverrissen sehr bedeckt. Wenngleich ich mich ge­legentlich frage, weshalb ich es großartig finden soll, wenn ein Schriftsteller nicht so recht zu einem Ende kommen kann und Tragödien zeitraubend auswälzt, als hätte man als Publi­kum sonst nichts zu tun. Und überhaupt: Wäre Herrn G ein Zacken aus der Krone gebro­chen, wenn er auch eine dem Faust gleichrangige Komödie hinterlassen hätte? Denn dieses Faust-Syndrom, das uns G hinterlassen hat, macht es dem Komödiendichter hier­zulande schon sehr schwer, als ernsthafter Künstler anerkannt zu werden.

Was war G bloß für ein Hundling! Habe ich vor kurzem doch tatsächlich gelesen, er hätte als einer der ersten aus dem Verbum „anstellen“ das Substantiv „Angestellter“ geformt (Mark Siemons: Jenseits des Aktenkoffers. Vom Wesen des neuen Angestellten, München Wien, 1997, S. 28). Das versaut einem doch glatt die subversive Freude an folgendem Zitat: „Der Angestellte mag ein Opportunist sein, ein intellektueller Parvenu, doch wer weiß, ob sich hinter der Fassade des die Unternehmen umkrempelnden Büro-Beraters nicht auch ein­mal ein Nietzsche verbirgt. Der Angestellte könnte abgründiger sein, als man denkt.“ (ebd. S. 12) Dabei habe ich für einen Augenblick ernsthaft erwogen, diese Aussage auf mich zu beziehen. Muss ich jetzt kündigen?

Das berühmteste aller G-Worte lassen wir besser außen vor! Aber halt! Was rede ich denn? Wir lassen es keineswegs außen vor! Ich spiele, man wird es schon erahnt haben, na­türlich auf jenes Wort an, welches unser G Götz von Berlichingen grölen lässt. Wir werden uns selbstredend eine Weile bei diesem Wort aufhalten! Denn dieses Wort gehört ihm nicht, dem Herrn Geheimrat von G. Er hat es zwar für kurz in Besitz genommen. Aber es gehört immer noch uns! Uns allen, und uns allein. Und wir benutzen es, weil es uns von seelischem Frust befreit. Jawohl! Das konntest du dir nicht einverleiben, du Schrecken aller wissbegieri­gen Schüler. Deshalb verwenden wir es ebenfalls hier und jetzt, herzhaft und ganz ohne An­führungsstriche: Leck mich am …! Abgesehen davon, dass du unästhetischerweise „im“… Also das lassen wir nun doch außen vor. Wir wissen nämlich, wann wir aufzuhören haben.

Wie beeindruckend ist dieser weltentrückte anonyme arme Poet, wie ihn Spitzweg gemalt hat! Von ihm wissen wir nicht einmal, ob jemals eine Zeile seines hart erarbeiteten Wer­kes über seine Dachkammer hinaus gelangt ist.

Wir schätzen natürlich durchaus an diesem Literaturgiganten, dass er dazu beigetragen hat, mehr Poesie in unsere prosaische Welt zu bringen. Aber ihn rühmen, weil er das Wort „Angestellter“ verbrochen hat? Kindisch sowas! Andererseits: Dafür kann der G, wie gesagt, ausnahmsweise nichts. Diese Rühmerei ist ja die Leistung seiner Mit- und Nachwelt, zu der leider auch ich gehöre. Hör’ mal zu, du Nachwelt! Hast du den G nicht allmählich genug gelobt und ge­rühmt?

Wenn G nicht nach Italien, sondern, sagen wir, nach Niederbayern gereist wäre, dann hätte er statt über Italien eben ein Buch über Niederbayern geschrieben, was be­stimmt nicht das Schlechteste gewesen wäre. Und irgendeinen Tischbein hätten wir in Nie­derbayern auch aufgetrieben, um G in hingegossener Pose zu malen. Nach Italien fährt in­zwischen sowieso jeder Halbgebildete. Haben die Niederbayern wenigstens ihre Ruhe. G, wir danken dir.

Es ist nahezu unmöglich, ein Leben zu leben, ohne jemals von G zu hören. Außerdem be­nutzen wir Tag für Tag Redewendungen, ohne ihren Ursprung auch nur zu ahnen. Man lebt in der steten Gefahr, unbeabsichtigt ein G-Zitat zu verwenden. Blättern Sie nur einmal im Faust herum, und Sie wissen, was ich meine. J.W., mir graut vor dir! Immerhin ist „Gelobt sei, was hart macht“ nicht von G, sondern von Nietzsche.

Spielen Sie mal Monopoly. Wer begegnet Ihnen da? Genau: G. Diesem Namen ist eine der lukrativsten Straßen gewidmet. Allerdings vergessen wir nicht zu erwähnen, dass sich gleich daneben das Feld „Gehen Sie in das Gefängnis“ befindet. Das tröstet wenigstens ein bisschen. Im Gefängnis wird man ja wohl nicht von G belästigt. Hoffe ich jedenfalls.

Ich gebe gerne, sehr gerne zu, wenig von G gelesen zu haben. Ich habe den Faust gele­sen, Faust II sogar im Residenztheater in München gesehen. Aber sonst? Es ist doch keine Kunst, nach Italien zu reisen und jedes Fitzelchen einer Beobachtung aufzuschreiben, damit andere dann ein Buch daraus binden. Ich dagegen komme kaum raus aus meiner Dichterstube und fülle trotzdem manche Seite mit mehr oder weniger Erbaulichem. Ach, wie sehr fühle ich mich mit dem armen Poeten spitzwegscher Provenienz verbunden! Aber ich gehe auf Di­stanz zu dem aristokratischen Gehabe des Stieler-G. Und so ein eitler Gimpel will in die (Un-)Tiefen des Lebens eingetaucht sein! Was hat er da überhaupt zu suchen? Oder man sehe sich das Gemälde von Josef Schmeller an, auf dem G in herrischer Haltung seinem Se­kretär diktiert. Da stellt sich doch die Frage: Konnte dieser Dichter denn nicht schreiben? Wir wollen zu Gs Gunsten annehmen, dass er entweder zu faul dazu war oder sich seine Finger nicht schmutzig machen wollte mit seinem Geschreibsel. Was man verstehen kann.

Übrigens: G ist nicht Schiller.

Über die Sofi ist ja massenhaft geschrieben worden. Aber bei G überschlagen sie sich re­gelrecht, als wäre eine totale Sonnenfinsternis nichts dagegen. Mir bleibt es vorbehalten, laut und deutlich zu sagen: So nicht!

Ich kann nicht mehr schlafen. G bringt mich noch um den Verstand.

Folgendes ist nun gar zu betrüblich: Wenn man bekennt, diesen oder jenen Schriftsteller, dieses oder jenes Buch zu lieben, dann, ja dann kann man darauf wetten, dass dieser Schrift­steller G abgöttisch verehrt oder dass G auch eben jenes Buch liebt. Nichts als G! Wohin man auch schaut: G, G, G. Wo bleibt da die Luft zum Atmen?

Natürlich ist es keine Kunst, eine Abneigung gegen den idolisierten Halbfastganzgott G zu hegen, zumal die Menschheit von der eigenen literarischen Produktion nichts zur Kenntnis nehmen will – aber sie kann ja gar nicht, weil ihr dieser G die Sicht versperrt! Und natürlich gehört auch nicht viel dazu, statt dessen vom armen Poeten Spitzwegs menschlich angerührt zu werden, der sich redlich abmüht mit seinen Versen, deren Maß er an die Wand kritzelt, wie ein Gefangener die Zahl seiner Tage in Haft in die Zellenwand ritzt. Ich bilde mir gewiss nichts darauf ein, aus der Riege der G-Sympathisanten auszuscheren, ich gebe nur einem Im­puls nach. Mehr nicht. Warum sollte ich ihm auch nicht nachgeben? Das ist unheimlich in­spirierend. Sie glauben gar nicht, wie!

In der thüringischen Staatskanzlei in Erfurt hängt auch so ein Gemälde (von einer gewis­sen Julie Gräfin von Egloffstein), auf welchem dieser G uns in, wer hätte Anderes erwartet, herrschaftlicher Pose aus symbolträchtiger Dunkelheit anblickt. Wo immer man hinblickt, überall hängt G. Wie viele Stunden seines Lebens hat dieser G eigentlich Modell gesessen? Hatte er überhaupt noch genügend Zeit, um – beispielsweise – den Faust zu diktieren? Gab es einen Ghostwriter? Natürlich wird hier die G-hörige Fangemeinde sofort loslegen, ja, das mache doch gerade das Universelle am Genie dieses G aus, dass er… Papperlapapp! G ver­stand es einfach nur, sich trefflich zu inszenieren und zu vermarkten. Das Genie-Image ist nichts anderes als ein cleverer Marketing-Trick. Man nennt G ein Genie so wie man Mi­chael J. „King of Pop“ nennt. Nur bei mir funktioniert sowas nicht.

Es mag bei G ja zur Erfindung des „Angestellten“ gereicht haben. Aber wenn schon G als Genie gilt, dann ist der Erfinder der „Bedürfnisanstaltbenutzungsordnung“, die in München die Benutzung von Bedürfnisanstalten regelt, erst recht eines.

Im übrigen hätte Herrn G ein Besuch in Niederbayern insbesondere aus sprachlicher Sicht durchaus nicht geschadet. Er hätte gewiss bald bemerkt, dass es beileibe keine Kunst ist, den „Angestellten“ zu erfinden, der Gschaftlhuaba, der gschnieglte.

Es überrascht mich überhaupt nicht, dass man mich einen Banausen schimpft. Dabei war G selbst sein größter Banause. Da wird sein Faust uraufgeführt, eines der am meisten über­schätzten Dramen der Weltliteratur, aber was tut er, der Herr Autor sel­ber? Er bleibt da­heim, weil er an der Vollendung seines Faust II arbeitet. Charmante Aus­rede! Das zeigt doch ganz deutlich, dass er selber auf (berechtigte) Distanz zu seinem Werk gegangen war. So kam es, dass sich G einen echten G hat entgehen lassen.

Allerdings war auch sein Verhältnis zu Schiller nicht ganz ungetrübt. Dem konnte er ja nicht mit herablassend-gönnerhafter Art begegnen, weil der selber ein zu großes Literaturka­liber war. Aber ich verwette Ihr gesamtes Vermögen, dass G in seiner Gruft rotiert in dem Wissen, dass Schiller und G regelmäßig und wie naturgemäß – als wären sie siamesische Zwillinge – in einem Atemzug genannt werden. Nur da ist G drin, wo Schiller drauf steht. Dabei war G dem überaus talentierten Schiller zu unpolitisch. Oder sagen wir es unver­blümt: zu selbstverliebt. Nur so einer wie G konnte einen Schmachtfetzen wie den Werther auf die Menschheit loslassen. Man weiß, dass diverse Selbstmorde die Folge waren. Und über den tieferen Sinn eines Erlkönigs nachzudenken, treibt jeden Anhänger der Idee des ge­sunden Menschenverstandes schier zur Verzweiflung.

Zugegeben, G hatte schon was auf dem Kasten. Es ist einfach unerträglich raffiniert, auf ein Buch lediglich zu schreiben: „Faust von Goethe“. Nur: „Faust von Goethe“. Das hat sei­nerzeit völlig ausgereicht! Das ist so blank, so nackt, so treffend und so einfach: „Faust von Goethe“. Es ist so pervers selbstsicher! Marketing pur. Und für meine kleine Trotzschrift reicht ein einziger Buchstabe aus, um zu wissen, wer gemeint ist: G. Ach, wenn man sich heute noch so vermarkten könnte! „Faust von Goethe“. Faust v. G. F.v.G. M.f.g.G: Mit freundlichen Grüßen, Goethe. Aber Genie und Stumpfsinn liegen nahe beieinander. Das sei insbesondere den Epigonen warnend zugerufen, und nicht G. Denn bei dem kommt aus heu­tiger Sicht jede Warnung zu spät.

Ich neide niemandem den Erfolg, schon gar nicht G. G ganz besonders nicht. Aber die Literaturgeschichte muss sich doch einmal daran gewöhnen, dass alle verwertbaren Indizien, etwa seine Gruft in Weimar – als ob es ein einfaches Grab nicht auch getan hätte -, darauf hinweisen, dass G schon längst tot ist. Zudem gilt: G ist gleich Goethe ist nicht gleich Gott.

Dieser Mann verfolgt mich bis in den Schlaf hinein! Ich werde seit Wochen von ein und demselben Traum heimgesucht, so dass ich den Schlaf möglichst fliehe, so lange es geht. Ich habe Angst zu schlafen! Mein Zusammenbruch steht unmittelbar bevor. O Freunde und Mit­glieder der schreibenden Zunft, steht mir bei!

Ich träume, ich bin der arme Poet. Der Stieler-G kommt in meine Kammer, verspottet mich, reißt mir das Blatt, welches ich gerade bedichte, aus der Hand. Darauf steht: „F.v.H. Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten…“ Er lacht mich aus, blickt aber zugleich mit finsteren Augen auf mein Werk. Da wird, und ich kann mich nicht wehren, aus dem H. ein G. Und schweißgebadet wache ich auf. Ich schwöre, ich bringe ihn noch um. Eines nachts bringe ich G mitten in meinem Traum einfach um. Selbst wenn er vermutlich gar nicht mehr lebt. Aber wie bringt man ein Genie um?

P.S.: Ich sitze also neulich in der S-Bahn und will meine Ruhe. Natürlich meldet sich ein Handy mit der bekannten Impertinenz. Ein weiblicher Fahrgast plärrt in die für den Morgen so angenehme Stille hinein: „Hallo! Hallo! Grüß dich!“ Man fühlt sich irgendwie persönlich angesprochen und möchte zurückbrüllen. Aber man weiß, was sich gehört. „Ich“, behauptet die Dame ihrem Handy gegenüber, „sitze in der S-Bahn.“ Das bedeutet nichts Geringeres, als dass jemand nicht einfach so in der S-Bahn sitzt, sondern darüber hinaus so freundlich ist, alle anderen, die gleichfalls in der S-Bahn sitzen, unzweideutig davon in Kenntnis zu setzen, er sitze in der S-Bahn. Seither weiß ich, warum Informations- und Sitzgesellschaft nur die zwei Seiten einer Medaille sind.

P.P.S.: Die wahren Helden der Literatur sind sowieso die Lyriker.

P.P.P.S.: Ich bin kein Lyriker.

P.P.P.P.S.: Jedenfalls nicht zu 100%.

P.P.P.P.P.S.: In Niederbayern sagt man übrigens „Läggmeamosch“.

P.P.P.P.P.P.S.: Und genau das kann G mich hiermit.

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