Urlaub daheim

Eine Sommeridylle von Bernhard Huber

1.
Ich hatte noch nie Urlaub. Nie! Wenn ich „nie“ sage, meine ich „nie“. Jedenfalls in diesem Zusammenhang. Sie können mir getrost glauben, on Sie das nun für möglich halten oder nicht. Und auch hierher trieb mich keineswegs die Urlaubssehnsucht, sondern die Aussicht auf körperliche und seelische Regeneration, verordnet von meinem Arzt. Allerdings werde ich in Zukunft wie alle anderen meinen Urlaub außerhalb Münchens verbringen. Sie werden bald verstehen, weshalb dieser Sinneswandel für mich unausweichlich geworden ist.

Selbstverständlich nahm ich die mir zugestandenen arbeitsfreien Tage Jahr für Jahr in Anspruch und genoss sie auch nach bestem Vermögen, freilich auf meine Art. Denn Urlaub hatte ich, wie schon gesagt, nie, genauer: Ich fuhr nie in Urlaub. Aber gerade das ist es, was den postmodernen Urlaub einer freizeitfixierten Gesellschaft ausmacht. Immer wenn ich jemandem anvertraute, ich hätte ab kommenden Montag für drei Wochen Urlaub, so kam unausweichlich nach dem Ausruf „Sie Glücklicher!“ die Frage: „Und wo geht’s hin?“

Falsch: Ich Unglücklicher! Nirgends ging’s hin! Nie ging’s bei mir irgendwohin – es sei denn nach Hause. Ich blieb zu Hause. So selbstverständlich der typisch deutsche Urlaubsnehmer ins Auto stieg und in Urlaub fuhr oder den Weg dahin mit dem Flugzeug überwand, auch auf die Gefahr hin, dass der Himmel über Deutschland überquoll, so selbstverständlich blieb ich daheim. So hatte ich mindestens als unglücklich, wenn nicht als zurückgeblieben zu gelten.

Warum? Mir gefiel’s daheim. Ich hatte nie das Verlangen, die Strapazen einer Urlaubsfahrt (Planung, Vorbereitung, Koffer packen, und nochmals: das demütigende, entsetzliche Koffer packen, die Reise selbst, Aufenthalt am Urlaubsort mit all den bekannten Unannehmlichkeiten, Rückreise, Nachbereitung: alles in allem eine sado-masochistische Mixtur) auf mich zu nehmen. Ich blieb daheim und ersparte mir das alles und viel Geld dazu. Fremde Kulturen kennenlernen? Ich bezweifle, ob das in zwei oder drei Wochen auf Teneriffa, Hawaii oder sonst wo möglich ist. Von dieser Kulturbeflissenheit scheint meistens sowieso nicht viel übrig zu bleiben. Ich denke da nur an dieses Foto, das immer wieder mal durch die Presse geistert und auf dem ausgelassenen Touristen zu sehen sind, die splitternackt auf einem Tisch tanzen, nur die Blöße des Hauptes schamhaft bedeckt, bis auf einen, der sich den Hut an das Geschlechtsteil gehängt hat, als hätte Gott dieses praktischerweise als Garderobenhaken für jenen ersonnen. Lernt man auf diese Weise fremde Kulturen kennen oder diese Kulturen nicht vielmehr uns? Denen muss man nicht alles zumuten.
2.
Es gab auch in diesem Jahr keinen Grund für mich, den betrieblich verordneten Sommerurlaub mit Wegfahren zu verschwenden. „Schreib’ uns eine Karte!“, spöttelten mir die Kollegen hinterher, als es soweit war und wir uns in den Urlaub verabschiedeten, unsere Arbeitsplätze für drei Wochen den Staubschwaden überlassend. Auch das Reinigungspersonal hatte frei.

Sie kugelten sich vor Lachen, und ich scherzte, weil ich mich mit diesen Ignoranten nicht lange auseinandersetzen wollte, zum Schein mit und konterte: „Aber ohne Briefmarke.“ Und ganz zum Schluss fügte ich hinzu: „Bevor man das Fleisch in die Pfanne gibt, muss das Öl heiß sein.“

Diese kulinarische Weisheit haben sie bestimmt nicht verstanden. Ich, da sie mir spontan eingefallen ist auch nicht, jedenfalls nicht gleich. Sie klingt wie eine prophetische Warnung, zumindest wie eine alte, möglicherweise chinesische Spruchweisheit, die man auf Kalendern finden kann. „Das Fleisch brutzelt so lange auf dem Feuer, bis es verbrannt ist, ist auch nicht ohne. Der Fleisch-Vergleich ist in diesem Zusammenhang übrigens sehr passend, finde ich. Denken Sie doch nur an die Schweine- und Rinderhälften, die tonnenweise über Europas Straßen gekarrt werden. Oder an die nackten Sonnenfetischisten, die erst glücklich sind, wenn sie glühen wie gekochter Hummer. Mein Fleisch war mir zu Beidem zu schade. Sollen die anderen ihre freien Tage, die ja auch nichts anderes als Tage dieses einen Lebens sind, auf der Flucht vor der Zivilisation verbringen und ihrer Hinternbräune wegen um den ersten Platz an der Sonne buhlen – ich blieb daheim.

Wovor sollte ich auch fliehen? Vor der Arbeit? Das sowieso. Aber dazu reichte es, einfach nicht arbeiten zu müssen. Vor den eigenen vier Wänden? Warum soll ich sie mir aber das Jahr über gemütlich einrichten, wenn ich ihnen dann ausgerechnet zur Urlaubszeit den Rücken kehre und meine Zeit in Flughallen, Staulawinen oder in ewig wiederkehrenden Warteschleifen über den Flughäfen dieser Erde zubringe und regelrecht verschwitze?

3.
Das Wochenende vor meinem Urlaub war angebrochen. Was ich an jedem Samstag des Jahres mache, das machte ich auch an diesem Samstag, vielleicht eine Idee ausladender: Ich zelebrierte mein Frühstück.

Der erste Akt bestand wie gehabt darin, mit einem gezielten Hieb des Messers in das weichgekochte Ei, das ich nur am Samstag gönne, einzubrechen, um es genüsslich – ohne Salz! – zu verzehren.

Der zweite Akt beinhaltete Semmeln – zwei bis drei Stück -, Butter, Käse, Wurst bzw. auch mal Schinken, Tee und viel, viel Zeit.

Und zum Dritten blätterte ich die Süddeutsche durch und las, was die Zeitung für mich hergab – sogar „Die letzte Seite“ mit den übrig gebliebenen Gags und Pointen hiesiger Profi-Witzler.

Im Urlaub war ein Frühstück der geschilderten Art täglich fester Programmpunkt für mich. Außerdem war es die einzige fest eingeplante Mahlzeit des Tages, für die ich Proviant besorgen musste. Die anderen Mahlzeiten gestaltete ich mal so, mal anders, nahm ich mal hier, mal da ein.

Die nötigen Einkäufe tätigte ich unmittelbar vor dem Frühstück bei meiner Tante Emma um die Ecke. Denn die Zutaten zu einem guten Frühstück, und das heißt vor allem die Semmeln, müssen frisch sein. So hielt ich es jedes Jahr.

4.
In diesem Jahr war manches anders. Schon in der ersten Urlaubswoche machte sich so etwas wie ein Versorgungsengpass bemerkbar. Tante Emma hatte einen vierwöchigen Betriebsurlaub eingelegt. Es war das erste Mal, dass sie dies tat, und ich hoffte, es würde eine Ausnahme bleiben. Ich war natürlich maßlos enttäuscht von Tante Emma, aber es war nichts zu machen. Es war von nun an halt etwas aufwendiger, jeden Tag das Frühstück zusammenzukaufen, weil ich nun mit dem Rad eine kleine Spazierfahrt zum Supermarkt unternehmen musste, was ich aus verdauungstechnischen Gründen durchaus zu akzeptieren bereit war.

Da die ersten Tage des Urlaubs durch und durch verregnet waren, weitete ich meine Vorratshaltung vorsichtig aus: Instant-Suppen, Gulasch und Nasi-Goreng in Dosen, H-Milch-Camembert.

5.
Am zweiten Urlaubstag wollte ich wieder Semmeln kaufen. Zehn Stück, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Aufgebackene Semmeln schmecken wie frisch. Doch die Körbe im Supermarkt waren leer.

Eine Verkäuferin, die vergleichsweise unnötig herumstand, sagte: „Tut mir leid, wir haben heute keine Lieferung bekommen. In ganz München gibt es keine Semmeln.“
„Was soll das heißen? In ganz München?“, fragte ich Unwissender.
„In drei Wochen geht’s wieder los mit der Produktion.“
Kurz und gut, ich musste mich mit abgepacktem Vollkornbrot begnügen. Vollkornbrot ist die einzige Brotsorte, die auch nicht mehr ganz so frisch noch leidlich schmeckt.

6.
„Wie? Keine Eier?“, stieß ich einige Tage später hervor. „Legen die Hühner jetzt für drei Wochen keine Eier mehr?“
„Natürlich legen die Hühner weiter ihre Eier“, sagte dieselbe Verkäuferin, um mich zu beruhigen. „Sie brauchen sich keine Sorgen um sie zu machen.“
„Und was passiert mit den Eiern, wenn sie nicht verkauft werden?“
„Keine Ahnung. Vielleicht werden sie tiefgefroren und zu Teigwaren für den Export verarbeitet, wenn die Nudelfabriken in drei Wochen den Betrieb wieder aufnehmen.“

Ich verstand den prophetischen Gehalt dieser Worte nicht ganz. Aber mir schwante Übles. Es gab also keine Eier mehr für den Rest meines Urlaubs. Ausgerechnet. Mein Hausarzt würde demnächst völlig vergeblich nach meinem Cholesterinspiegel Ausschau halten.

Ich gehe nächste Woche auch in Urlaub, nach Formentera“, sagte die überaus reizende Verkäuferin unvermittelt und mit einem fließend-weichen Lächeln unter der Nase.
Ich zuckte zusammen.
„Schließen Sie etwa auch?“, fragte ich, meine Ängstlichkeit verbergend.
„Nein.“
Ich war erleichtert.
„Die Filialleiterin hält die Stellung.
Ich war erleichtert und keine Spur misstrauisch. So ist der Mensch nun einmal. Hat er Angst, lässt er sich blind auf Illusionen ein, die er fälschlich für Hoffnungen hält, und die Hoffnungen verwechselt er – hastdunichtgesehn – mit der Realität. Doch die Realität hustet den Hoffnungen was.
Ich war mir nicht bewusst, dass die Filialleiterin ab Montag das letzte Personalaufgebot im Supermarkt sein würde, obwohl das so offensichtlich war wie eine Zahnlücke. Was machte mich so unvorsichtig.? Vielleicht lag es am verregneten Urlaub, der mich in den Genuss versetzte, daheim einfach zu faulenzen: lange liegengebliebene Bücher lesen, schlafen, Tee trinken, mich der Muße hingeben. Der Regen konnte mir deshalb gar nichts anhaben. Ließ ich die Welt eben draußen und ich führte das Leben eines Eremiten. Nicht einmal den Fernseher schaltete ich ein. War ich deshalb so gedankenlos unvorsichtig?

Rückblickend frage ich mich natürlich, warum mir nicht aufgefallen war, dass die Zeitungszustellung schon seit einigen Tagen ausblieb. Ich hätte doch an den fehlenden Berichten über die Staus und Unfälle auf den Autobahnen bemerken müssen, dass ich in einem Nachrichtenvakuum lebte. Und dass ich mich so wohl fühlte wie lange nicht mehr. Das war unnormal.

„Na ja“, sagte ich zur Verkäuferin, „der Kapitän bleibt auf dem sinkenden Schiff und verlässt es als letzter.“
„Ja, am Mittwoch“, sagte die Verkäuferin. Sie schien durch mich hindurchzureden. Ich spürte, wie sich der leise Schimmer einer ungewissen Beklemmung um meine Kehle schlang. Ich schluckte in dem dumpfen Bewusstsein, dass bald das große Nichts in meinem Bauch ausbrechen würde.
Mechanisch sagte ich: „Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Urlaub. Ich hab’ noch zwei Wochen.“
Zur Sicherheit griff ich in das Regal mit den Rindfleisch-Dosen aus EG-Beständen. Das Regal war leer.

7.
In diesem Jahr treiben die es aber weit mit dem Urlaub, dachte ich missmutig gelaunt. Nun würde ich auf mein spezielles Frühstück verzichten und mich vielleicht gar auf Knäckebrot einstellen müssen.

In einem Anflug von Panik stieg ich ins Auto, um mich in den Kaufhäusern Münchens mit ausreichend Lebensmittelns zu versorgen, die Haltbarkeitsfrist nicht unter zwei Wochen, besser wären drei.
Ich hätte vor dem Urlaub voll tanken sollen. Auf meiner Suche nach etwas Essbarem, nach einem geöffneten Kaufhaus, nach einem Kramladen außerhalb, nach einem betriebsbereiten Fernsprechapparat, mit dem ich Nahrung aus dem benachbarten Ausland – ich dachte aus naheliegenden Gründen an südliche Länder – hätte ordern können, blieb das Auto auf der Strecke. Der Tank war leer. Bei vollem Tank wären noch gut 300 Kilometer drin gewesen, 300 lebenswichtige Kilometer. Ich dachte an meine Kollegen, denen es da, wo auf der Landkarte unten ist, an nichts fehlte.

8.
Ich irrte zu Fuß weiter, wie eine ausgetrocknete Gestalt durch die Wüste irrt, bis auch ich kraftlos liegenblieb.
Offenbar war ich noch so klar im Kopf, dass ich trotz akuten Deliriums das in meiner Situation einzig Vernünftige tat: Ich schlug mich zu einer Autobahnraststätte durch.
9.
Nichts als den sicheren Tod vor Augen, ließ ich mich vom Instinkt des Homo Automaticus leiten. Dort, wo man das Auto versorgt, fällt gewöhnlich auch ein Brosame für den Menschen ab. Und wenn die Krankenhäuser schon längst geschlossen haben, weil das Personal in den wohlverdienten Urlaub gefahren ist, bieten Autobahnraststätten noch lange die heute überlebensnotwendigen Serviceleistungen an: Benzin und frisches Öl für das Auto, Fast Food für den Fahrer.

Ein aufmerksamer Brummi-Fahrer, der mit einer Ladung Schweinefleisch auf dem Weg nach Italien war, entdeckte mich, der ich von einer Trauminsel phantasierte, im Gebüsch hinter dem Rasthaus-Klo.

10.
Nach dem Urlaub begab ich mich auf Anraten meines gut erholten Hausarztes direkt hierher in Kurbehandlung. Mein Zustand war so schlecht, dass die Krankenkasse ohne Zögern einen Aufenthalt am Meer genehmigte. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss meinen Kollegen eine Karte schreiben.

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