Noch ehe ich es gelernt hatte, war ich des Lesens auch schon überdrüssig. Während andere im vorschulischen Alter es gar nicht erwarten konnten, wie Erwachsene die Buchstabenfolge in Zeitungen und Büchern zu decodieren, wandte ich mich anderen als erwachsenen Dingen zu. Warum sollte mich auch interessieren, was andere zu Papier brachten? Bücher waren schließlich keine persönlichen Mitteilungen an mich.
Aber auch ich musste von den zweifelhaften Früchten der Schulpflicht kosten und lernte lesen. Doch trotz der zunehmenden Fertigkeit und Versiertheit blieb ich auf Distanz zum gedruckten Wort. Deshalb sprach ich erst einmal bevorzugt jenen Druckwerken zu, deren Bild/Buchstaben-Verhältnis eindeutig zu ungunsten der Buchstaben ausfiel.
Erst als etwa Vierzehnjähriger begann ich mit der konsequenten Lektüre von längeren Texten, also von Büchern, ließ ich einem gelesenen ein nächstes folgen usw. bis heute: Ich wurde Leser, wie sich das für einen, der die gymnasiale, noch dazu humanistische Stufenleiter zum Abitur zu erklimmen trachtete, nach eingeschworener Meinung auch gehörte, und irgendwann brachte ich es sogar zum ehrenamtlichen Rezensenten eines Büchereiverbandes. Allerdings habe ich in dieser den Zenit meiner Bereitschaft, mich in den Bann literarisch erzeugter Illusionen ziehen zu lassen, überschritten. Du meine Güte, was für Bücher auf die Menschheit losgelassen werden! Wenn ich lese, dass jemand jemanden mit vorgehaltener Pistole zwingt, ihm zu folgen, segnet der Genussleser in mir sofort das Zeitliche, und ich lege das Buch weg. Unbegreiflich, dass so ein Blödsinn ein Lektorat unbeanstandet überlebt. Für so etwas soll ich lesen gelernt haben? Andererseits: Was heißt genusslesen? Für mich ist das eine jener Worthülsen, die für Klappentexte Verwendung finden, um ein Buch unverzichtbar erscheinen zu lassen. Zwangslesen ist das!
Aber auch sie gibt es, die Romane, die ich in Ehren halte: Lebensansichten des Katers Murr (E.T.A. Hoffmann); Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman (Laurence Sterne); Monsignore Quijote (Graham Greene); Drei Mann in einem Boot (J.K. Jerome); Humphry Clinkers Reise (Tobias Smollett); Das Leben. Gebrauchsanweisung (Georges Perec); Der dritte Polizist (Flann O‘Brian); Fußreise, die Galoschen des Glücks (und etliche andere Texte von Hans Christian Andersen). Nicht zu vergessen, wenn auch ohne speziellen Buchtitel: Pelham Grenville Wodehouse.
Wahrscheinlich war es unvermeidlich, dass auch ich, nachdem ich am 18. Januar 1974 erstmals ein Gedicht zusammengereimt habe, eines späteren Tages auch anfing, mich an längeren Texten zu versuchen. Ich erwähne meine um 1980 entstandene „Zimting Trilogie“, enthaltend „Ein Affe für Bonn“, „Niemand gegen Polyphem“ und „Puppenfleisch und Marionetten“. (Kennt natürlich kein Mensch, weil ich keinen Verlag damit belästigt habe, und wenn ich es doch gemacht hätte, sich kein Verlag erbarmt hätte. Allerdings bin ich nach kürzlich erfolgter und durchaus bänglicher Relektüre mit dem Ergebnis auch heute noch zufrieden.)
Schließlich gab ich dem Schreiben von Romanhaftem den Laufpass, vor allem aus Zeitmangel, weil Familie und Beruf meiner bedurften. So wehte mich die von mir praktizierte Lebensführung in die Arme von Gedichten und Aphorismen. Deren Kürze lernte ich lieben, weil sich in ihr Präzision und Ästhetik so wundersam verbinden. Im Idealfall sind sie auf den Punkt gebrachte Wahrheiten, die sich in ihnen verbergen.
Mein nicht ganz so kurzer Abgesang an die Welt der literarischen Schinken und Schmöker (gerade drängt sich das 1600-seitige Monstrum „Die Elenden“ von Victor Hugo, das ein ungelesenes Dasein in meinem Bücherregal fristet, in mein umherschweifendes Blickfeld) trägt den Titel „Nudisten im Haus. Eine Ungeschichte“, so wie man auch Unsumme, Untiefe oder Unmenge sagt. Eine Kategorie wie Roman kommt dafür nicht in Frage.
Herzlichst Emsemsem
Hier geht’s zu besagten Nudisten im Haus, von denen es sogar noch eine „Urfassung“ gibt, so wie von Goethe einen „Urfaust“.