
1.
Es war in einem fernen Land. Dieses Land verdoppelte sich einmal über Nacht. Nicht dass es plötzlich doppelt so groß an Fläche gewesen wäre. Vielmehr sind zwei Länder plötzlich eines geworden.
Es ist also genau genommen so, dass es in zwei fernen Ländern war, die sich über Nacht verdoppelten, weil sie eines geworden waren. In dem einen Land, das plötzlich da war, steckten also in Wirklichkeit zwei doppelte. Aber übrig blieb doch bloß eines. Wenn ihr das nicht versteht, fragt eure Eltern oder Großeltern, die das aber vielleicht auch nicht verstehen. Aber dann wisst ihr, dass das eigentlich egal ist.
In diesem plötzlich doppelten Land herrschte ein Bundeskanzler schon manches Jahr, und das Volk liebte ihn so, wie man einen Bundeskanzler liebt. Man hat ja keinen besseren. Also liebt man den, den man hat, auch wenn man ihn noch viel lieber dahin wünschen würde, wo der Pfeffer wächst.
Wisst ihr, wo der Pfeffer wächst? Es würde mich nicht wundern, wenn das nicht auch ein verdoppeltes Land wäre.
2.
Der Bundeskanzler herrschte, wie sich das gehört, von der Hauptstadt des Landes aus, wo es ein ganz besonders großes Haus gab. Dieses Haus war zwar mindestens so groß wie ein Schloss. Aber da der Bundeskanzler kein König war, war dieses Haus auch kein Schloss. Es hieß „Bundeskanzleramt“.
Dieses Haus hatte ganz viele Zimmer. Die brauchte der Bundeskanzler auch bei den vielen Problemen, die er täglich lösen musste.
Als Regierungschef musste er stets über alles die Kontrolle haben. Deshalb waren auf seinem Schreibtisch viele Schalter, Hebel und Regler angebracht. Die gehörten zur Regierungsmaschine, die nur er bedienen durfte und die auch nur er bedienen konnte. Jedesmal, wenn er sie einschaltete, musste er seinen Benutzernamen und ein persönliches Kennwort eingeben, das ihm der Bundespräsident am Beginn seiner Amtszeit in einem verschlossenen Kuvert übergeben hatte. Der Bundeskanzler musste sich das Kennwort merken. Daraufhin wurde das Dokument in einer feierlichen Zeremonie, an der das gesamte diplomatische Korps teilnahm, dem Feuer übergeben. Das Kennwort hieß: IchschreibeGeschichtevonmeinerWahlbisaufdenheutigen Tag.
Kennwörter dieser Art merkt sich jeder Bundeskanzler recht schnell.
3.
Über die Regierungsmaschine hatte der Bundeskanzler jederzeit Zugriff auf seine Minister. Er musste nur auf den entsprechenden Knopf drücken, und sofort war der Wirtschaftsminister zur Stelle und legte ihm die aktuelle Arbeitslosenstatistik vor. Wenn der Minister auf den Knopfdruck nicht unverzüglich reagierte, weil er vielleicht gerade auf einer Auslandsreise war, an einer wichtigen Aufsichtsratssitzung eines Konzerns teilnehmen musste, der 10.000 Arbeitsplätze streichen wollte, oder weil er im Swimming Pool eines Hotels mit einer in der Öffentlichkeit noch ganz unbekannten Frau etwas für seine Gesundheit tat – also dann konnte es schon sein, dass der Bundeskanzler furchtbar wütend wurde und so einen Minister einfach feuerte.
Das macht aber in einer Demokratie gar nichts aus, weil da immer jemand da ist, der Minister werden will. Wenn der Bundeskanzler wieder einmal einen neuen Minister oder eine neue Ministerin brauchte, sagte er einfach zu einem Menschen: „Du wirst mein neuer Minister.“ Und der wurde das dann auch gleich.
4.
Eines Tages, der Bundeskanzler war mitten im schönsten Regieren, klopfte es an seiner Tür. Da war er sofort sauer. Denn beim Regieren ließ er sich gar nicht gerne stören. Der Finanzminister bestand darauf, ihn auf der Stelle zu sprechen.
Eigentlich war die Sekretärin dafür verantwortlich, dass der Bundeskanzler beim Regieren nicht gestört wurde. Aber die sagte, der Finanzminister hätte sich nicht abwimmeln lassen. Es ginge um eine Angelegenheit von höchster staatlicher Bedeutung.
5.
Da staunte der Bundeskanzler nicht schlecht. Wie war das möglich? Es konnte doch nicht um eine Angelegenheit von höchster staatlicher Bedeutung gehen, ohne dass er als erster davon erfahren hätte. Ein misstrauischer Blick streifte seine Regierungsmaschine, auf der ein Knopf mit der Aufschrift „Probleme lösen“ angebracht war.
Der Finanzminister war ganz aufgelöst.
Ohne seinen Chef zu grüßen, stieß er beim Eintreten sogleich hervor: „Wir haben kein Geld mehr.“
„Aber Finanzminister, das sagst du doch immer.“
„Ich weiß, mein Bundeskanzler. Das hat erzieherische Gründe, damit die Menschen nicht verschwenderisch werden. Aber jetzt wird es ernst. Wir hätten das Land nicht verdoppeln dürfen.“
Da sah der Bundeskanzler, dass es wirklich ernst war.
Er sagte: „Ich werde nachdenken, was da zu tun ist. Komme heute abend noch einmal zu mir.“
6.
Der Tag verging. Aber es war eine Menge los im Bundeskanzleramt. Ständig ging die Tür des Arbeitszimmers der Bundeskanzlers, was seine Sekretärin schier zur Verzweiflung brachte. Denn keiner von denen, die dem Bundeskanzler so zusetzten, war angemeldet. Aber wenn man Bundeskanzler ist, läuft das Leben nicht so wie für die Untertanen. Da hat man nicht einmal Gleitzeit, so dass man zu seiner Sekretärin auch mal sagen kann: „Rufen Sie bitte den russischen Präsidenten an. Leider kann er morgen nicht zu seinem Staatsbesuch kommen, weil ich Überstunden abbauen muss.“
Teil 2 in einer Woche