Kants Kritik meiner reinen Vernunft

Kant und sein Sinn

Ich habe durchaus Respekt vor Büchern. Leider vermögen viele von denen, die Bücher schreiben und die sie in ihren Läden anbieten, diesen Respekt nicht aufzubringen. Niemand würde seinen Kühlschrank mit Unrat vollstopfen.

Wenn ich Kant, bitte entschuldigen Sie, das Maul stopfen will, brauche ich nur ein Buch zu lesen. Dann ist er brav wie ein Lämmchen, und ich habe garantiert meine Ruhe. Man kann sich denken, dass ich alleine schon aus diesem Grunde gern und lange lese. „Leben und Meinungen des Tristram Shandy“ oder „Das Leben. Eine Gebrauchsanweisung“ von Georges Perec habe ich bestimmt schon dreimal gelesen. Eines Tages jedoch, ich las ein Buch über den Sinn des Lebens, spürte ich förmlich die Unruhe meines reinen Denkens namens Kant, für die es natürlich die nachfolgend darzustellende Erklärung gab.

Auf dieses Buch bin ich während einer dienstlich veranlassten Zugreise aufmerksam geworden, und zwar, wie ich gestehen muss, keinesfalls freiwillig, sondern unter dem nicht unmaßgeblichen Einfluss Kants, als ich eine Zeitung mehr durchgeblättert als -gelesen habe, um sie schnell wieder beiseite legen zu können.

Wie es meine Art ist, wende ich die Blätter der Tagespresse, insbesondere diejenigen des Feuilletons, möglichst schnell um. Ich vertraue auf meinen intuitiven Blick, der mir schon signalisiert, ob sich hier oder da nicht doch etwas des genaueren Lesens Wertes befinde. Zeitungen zeichnen sich zum einen durch ihr vollkommen leserunfreundliches Format aus, dem sie das Publikum tagtäglich auszusetzen belieben, und je seriöser eine zu sein vermeint, desto leserunfreundlicher ist sie. Diese Aussage bezieht sich ausdrücklich auf sämtliche der drei messbaren Raumdimensionen. Zum anderen langweilen mich lange Texte, und erst recht die in einer unförmigen Zeitung abgedruckten recht schnell.

Du meine Güte! Zeitungen sind doch nur etwas von Wichtigmachern für Wichtigmacher, was ganz besonders für das Feuilleton gilt, und Wichtigmacher sind nun einmal, es ist höchste Zeit, dies einmal ungeschützt auszusprechen, die langweiligsten Menschen des Universums, wenn es außerhalb unserer geliebten Mutter Erde überhaupt menschliches Leben geben sollte.

Wäre da nicht Kant gewesen, hätte ich die Zeitung, die ich nur deshalb, also mehr pflichtschuldig als aus Interesse, zur Hand genommen habe, weil sie mir vom Zugpersonal angeboten worden war, nach etlichem Geraschele und Geknülle wieder zur Seite gelegt, um mich dem Wortsuchspiel hinzugeben, eine Rätselart, die die Götter nur für mich erfunden haben könnten. Aber wie immer: Wo ich bin, ist auch Kant. Also war er da, als ich eine Seite überblätterte, auf der es der Redaktion gefiel, Auslassungen über ein neu erschienenes Buch abzudrucken, das mit 160 Seiten eher dünnleibig ausgefallen war, insbesondere wenn man bedenkt, dass es darin um nichts weniger als den eingangs schon erwähnten Sinn des Lebens gehen sollte. Der Sinn des Lebens sollte, wie ich finde, schon deutlich umfangreicher zu Buche schlagen.

Noch während ich mich auf die diesem Lebenssinn folgende Zeitungsseite davonmachte, riss mich Kant aus meiner dem Medium Zeitung zuzuschreibenden Lethargie.

„Halt!“ gebot er.

„Sofort zurückblättern!“ befahl er.

„Um Gottes willen!“ erschrak ich.

Das erklärt, wie ich finde, zur Genüge, Kants Nervosität, als ich eben das in der fraglichen Zeitung besprochene Buch las.

Doch hier gilt es, eine Berichtigung einzuflechten. Allerdings ist, wenn ich es mir recht überlege, Berichtigung ein zu scharfes Wort, da es den Eindruck erweckt, es müsste etwas Falsches aus dem Weg geräumt werden. Wenn ich vorher sagte, ich hätte den „Tristram Shandy“ dreimal gelesen, so stimmt das zwar durchaus, aber zugleich auch wieder nicht, weil ich erst nach dem dritten Durchgang das Gefühl habe, ich hätte es erst einmal gelesen.

Ich ließ den Impuls zu fragen, warum ich zurückblättern solle, ins Leere laufen. Und blätterte zurück. Diese Frage hätte erstens – ich kannte Kant inzwischen so gut, als wäre er mein Alter Ego – zu keiner für mich nützlichen Antwort geführt, sondern höchstens zu einem an der Nähe zur Streiterei angesiedelten Disput.

Zweitens wäre als Ende dieses Disputs vorhersehbar gewesen, dass ich zurückgeblättert hätte. Und schließlich drittens: Was hätte eine Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem Zurückblättern einer Tageszeitung schon für einen Sinn?

Also blätterte ich, wie gesagt, zurück, wobei ich zu meinem größten Bedauern nicht ausschließen kann, dass dies von Kant als ein Akt des Gehorsams ihm gegenüber interpretiert worden ist. Ich kenne ihn. Was aber war es, was Kants Interesse derart erregt hatte, dass er so energisch darauf bestanden hatte, dass ich zurückblättere?

Ich staunte nicht schlecht: Der Sinn des Lebens war es, der ihm – ich sehe keine andere Möglichkeit, als körperliche Bezeichnungen auf den körperlosen Kant anzuwenden – ins Auge stach. Kant wollte unbedingt einen Artikel lesen, in welchem ein Buch über den Sinn des Lebens besprochen wurde.

Es ist nicht so, dass ich an dieser Thematik nicht interessiert gewesen wäre, allerdings nicht so, wie es bei Kant der Fall zu sein schien. Besonders bemerkenswert an dem Zeitungsartikel fand ich diejenige des Buches wiedergebende Darstellung, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens eine unechte Frage sein könnte, weil es darauf vielleicht nichts zu antworten gibt. Mir waren einige Verfechter der These, dass eine Frage niemals, eine Antwort jedoch durchaus dumm sein könnte, bekannt, eine These, der zu widersprechen ich mir seit geraumer Zeit zur Aufgabe gemacht hatte. Denn wenn eine Antwort dumm ist, könnte es durchaus sein, dass aufgrund der vorliegenden Frage gar keine andere als eine dumme Antwort möglich war. Jede Antwort steht und fällt mit der Frage.

Dieses Problem soll hier nicht weiter vertieft werden, zumal ich endlich diese vermaledeite Dienstreise zum Abschluss bringen möchte und ich sowohl die Lektüre einer Zeitung als auch das Erzählen darüber langweilig finde.

In der folgenden Zeit ließ Kant nicht mehr locker. Ständig lag er mir in den Ohren, das Buch, von dem er in der Zeitung gelesen hatte, – endlich zu kaufen, – sofort zu kaufen, – wie lange es denn noch dauern würde, bis ich es kaufte. Denn kaufen müsse ich es eines Tages ja doch. So viel sei klar für ihn.

Ich hatte also um eines lieben Friedens willen nur die Wahl, bis auf weiteres sämtliche Buchläden zu meiden oder dieses Buch zu kaufen. So mied ich vorerst und kaufte nicht. Schließlich aber, als ich Kant in Sachen Lebenssinn beruhigt wähnte, betrat ich nach längerer Abwesenheit wieder einmal den Hugendubel am Marienplatz in München, wie ich das vor meiner Zeit mit Kant – oja, die gab es – zu tun pflegte, und wovon mich selbst Kant niemals abzuhalten vermochte, wenn ich von der Affäre um den Lebenssinn einmal absehe.

Kaum jedoch, dass ich das tat, war Kant auch wieder präsent, was dieses Buch anlangte, als hätte er all die Wochen hindurch nur auf diesen Augenblick gewartet.

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