Kants Kritik meiner reinen Vernunft

Kants Existenz und meine

Das Braten eines Spiegeleis ist ein präkulinarischer Genuss, der sich aus den unterschiedlichen ästhetischen Dimensionen zusammensetzt. Unter verheißungsvollem Zischeln und Brizzeln färbt sich das Eiklar weiß, was den einzigartig gelben Dotter, der mitten drin thront, richtiggehend zum Leuchten bringt. Schließlich verbinden sich die Salzkörner mit dem Ei, während es unten vom Rand her knusprig zu werden beginnt. Paul Bocuse, jener berühmte Koch der Nouvelle Cuisine, soll junge Leute, die sich von ihm ausbilden lassen wollten, unweigerlich vor die Tür gesetzt haben, wenn sie das Spiegelei so wie ich und so wie eigentlich jeder, der bei Verstand ist, gesalzen haben. Jener legendäre Herr Bocuse bildete sich ein, man müsse die Butter, in der das Ei zu braten war, und nur in Butter durfte das Ei gebraten werden, salzen und habe das Salzen von oben zu unterlassen. Dem stelle ich mich mit ganzer Kraft entgegen. Denn ich möchte den Dotter und nur ihn mit Salz schmecken. Zudem liebe ich den Anblick der in der Glasur des Dotters verschwimmenden Salzkörnchen.

Törichter Meisterkoch!

Der ästhetische Höhepunkt aber ist, dass kein Spiegelei dem anderen gleicht, dass jede Form, zu der es sich entfaltet, ein Kunstwerk ist, das nur eine Darbietung erlebt, seine Uraufführung nämlich, und die auch ohne Generalprobe.

Eines Tages brate ich mir zwei Spiegeleier, erfreut darüber, dass es mir gelungen ist, die beiden Eier, ohne dabei die Dotter zu verletzen, in die Pfanne zu schlagen. Da vernehme ich wie von weiter Ferne die matte Stimme Kants.

„Selbst wenn ich ein Mensch wäre wie du, ich brächte so ein Ei nicht herunter.“

Er macht einen resignierten, wenn nicht deprimierten Eindruck.

Als verstünde sich das von selbst, spritzt gerade in diesem Augenblick heißes Öl aus der Pfanne, und ein kleiner heißer Tropfen trifft meine rechte Hand, die den Pfannenwender hält.

„Au!“ rufe ich, und Kant meint: „Mach dich nur lustig über mich.“

„Ich habe mich nicht lustig gemacht über dich. Mir ist heißes Fett auf die Hand gespritzt.“

„Ach ja, heißes Fett ist auch vergänglich. So wie diese beiden Eier da in der Pfanne.“

„Und wie die vergänglich sind. Das kannst du gleich beobachten, wenn ich mich an den Tisch setze und sie mit Genuss verspeise.“

„Ich würde“, sagt Kant, „nie Eier essen. Niemals. Selbst wenn ich Mensch wäre wie du.“

„Selbst wenn du“, sage ich, „Mensch wärst, wärst du noch lange keiner wie ich.“

Das überhörend, fuhr Kant fort, Gebrutzele in der Pfanne mache ihn seit jeher nervös, und jetzt erst recht, da ihn die letzte halbe Stunde die Frage nach dem Sinn seiner irdischen Existenz plage, die so irdisch nicht einmal sei, und das gerade sei sein Problem.

Das verstünde ich nicht, halte ich ihm entgegen, was er sei, sei doch offenkundig: Er sei nichts als Denken. Reines Denken.

Mein reines Denken sei er, um genau zu sein, schiebt Kant sogleich hinterher, und wenn er diese beiden in Butter impertinent ihrer Garung und ihrem letztendlichen Verzehr entgegenschmurgelnden Eier sehe, meine er darin symbolhaft die Grenzen meiner und seiner Existenz zu erkennen. Ob Mensch oder nicht, Existenzen seien wir beide allemal. Ganz nervös mache ihn das.

Was Spiegeleier mit unser beider Existenzen zu tun hätten, frage ich.

„Wenn du stirbst“, sagt er, „was wird dann aus mir? Das ist im Kern die Frage, die mir durch den Kopf geht.“

„Das ist immer noch mein Kopf“, stelle ich klar.

„Deshalb bin ich zwar anders vergänglich als du. Aber vergänglich sind wir beide.“

Das stillt, ohne einen einzigen Bissen zu mir genommen zu haben, meinen Appetit auf Eier abrupt, und ich schiebe, nun meinerseits resigniert, die Pfanne zur Seite.

„Ich weiß zwar nicht“, fasst Kant zusammen, „was und warum diese Spiegeleier was mit unseren Existenzen zu tun haben. Aber sie haben damit zu tun. Sonst würdest du sie essen.“

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