Kants Kritik meiner reinen Vernunft

Kant im Zwielicht

Wenn man nachts nicht einschlafen kann, liegt das entweder an einer inneren oder an einer äußeren Unruhe. Die äußere Unruhe wird beispielsweise verursacht durch:

  • Motoren aller Art, wobei besonders Hubschrauber und Mopeds auffallen, weil die schon von weither und entsprechend lange zu hören sind
  • Autotüren
  • Katzen
  • Hunde
  • Heimkehrer, etwa vom Oktoberfest
  • Ad-hoc-Diskussionen zu Themen nach dem Motto „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“

Die innere Unruhe plagt einen, wenn man vom soeben verflossenen Tag nicht loslassen kann, weil ein Problem Geist und Seele zwickt und zwackt, weil man begründeten Anlass zu exorbitanter Freude hat oder weil, wie in dem dieser Erzählung zu Grunde liegenden Fall, jemand ein Zischelgeräusch von sich gibt. Ich ordne das in die Kategorie der inneren Unruhe ein, weil mein Verhältnis zu Kant kein äußeres ist.

Eines Nachts also zischelte es in mir, der ich schon recht erfolgreich auf dem Pfad ins Land der Träume unterwegs war:

„Schschschlfssssssssnschschschn.“

Zwar glaube ich nicht, dass diese an ein verstümmeltes Wort erinnernde Buchstabenkombination tatsächlich gesagt worden ist, gehört habe ich sie gleichwohl. Diese Laute wühlten sich in eben dieser Form in mein Bewusstsein, die Kant, nachdem er mich wie oben zischelnd dem endgültigen Fall in Morpheus‘ Arme entzogen hatte, sofort wiederholte, als glaubte er, mir nur so verständlich machen zu können, warum ihm gerade jetzt eine kurze, gleichwohl intensive Zwiesprache mit mir ein ganz besonderes Herzensanliegen war.

„Schschsch…“

„?“

„Schschschläfssssssss…“

„??“

„Schschschläfsssssssssduschschschn?“

„???“

„Schschschläfsssssssssduschschschn?“

„Duschen?“

„Schläfst du denn schon?“

Das ist natürlich eine Schein-, um nicht zu sagen, eine scheinheilige Frage. Denn sobald sie jemand beantworten kann, kann er sie schon nicht mehr beantworten, weil die Antwort schon mit der Frage gegeben ist.

Also sagte ich nur: „Was willst du?“

War ich nur zu müde, um mich, Grund dazu hatte ich ja, um mich zu ärgern oder war ich tatsächlich die Gelassenheit in Person? Vermutlich war ich beides. Im Laufe meines immer länger werdenden irdischen Lebens habe ich begriffen, dass es völlig sinnlos ist, sich über nächtliche Lärmbelästigungen gleich welcher Art und welchen Ursprungs aufzuregen. Diese Erkenntnis auch auf Kant anzuwenden, kostete mich einige Mühe. Aber gerade im Umgang mit ihm sind robuste Nerven ein besonders wertvolles Gut. Kants Un-Wesen in die Schranken zu weisen, fehlt mir jedoch jedes probate Mittel, obwohl sich gerade nachts, wenn ich im Bett liege, um mich von einem arbeitsreichen Tag in den Schlaf zu verabschieden, meine sich frei und ungehindert entfaltenden Gedanken oft als Wunsch in diese Richtung bewegen und mich sogleich als Störung meiner inneren Ruhe am Schlafen hindern. Deshalb gilt auch hier: Nein, ich rege mich nicht auf!

Deshalb beschränkte ich mich, wie gesagt, auf die Frage „Was willst du?“, die ich bewusst gedehnt aussprach.

„Hast du schon einmal einem was verzeihen müssen?“

Von einer Sekunde zur nächsten war ich in Alarmstimmung. Ich argwöhnte, dass Kant eine jener Fragen stellte, die nur dem Zweck dienen, sich langsam an ein unerfreuliches Thema, wie es etwa das Geständnis einer Missetat ist, heranzutasten, um einen wahrscheinlichen Wutausbruch des Gesprächspartners, der in diesem Falle ich war, abzumildern.

Dann aber erinnerte ich mich daran, dass mir tatsächlich vor etwa 15 Jahren etwas widerfahren war, was meiner Verzeihung bedurfte. Es versteht sich von selbst, dass ich hier keine Einzelheiten preisgebe. Aber ich kann doch soviel sagen, dass ich damals lernte, dass es beim Verzeihen nicht damit getan ist zu sagen: Ich verzeihe dir.

Verzeihen ist sehr viel schwerer. In meinem Fall verhielt es sich so, dass der Mensch, der mich sehr tief in meiner Seele verletzt hat, vielleicht ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, nach vielen Jahren, gleichfalls vielleicht ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, ein Signal aussandte, das ich aufgreifen konnte, um die Angelegenheit durch Verzeihen abzuschließen. So bin ich eine Last losgeworden, die ich sonst bis an mein Lebensende mit mir getragen hätte. Der, der verzeiht, ist genauso Nutznießer des Verzeihens, wie der, dem verziehen wird. Es reinigt die Seele dessen, der verzeiht, nicht minder als die Seele dessen, dem verziehen wird.

Als ich Kant die Geschichte dieser meiner großen Verzeihung erzählt hatte, sagte er:

„Dann wirst du mir vielleicht nie verzeihen können, dass ich einmal sagte, ich sei deine zweite Natur.“

Dann schwieg er lange, währenddessen meine Augen den Schatten folgten, die das Mondlicht an die Zimmerdecke warf.

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