Eines Tages ging mir Kant, wer sonst, schon am frühen Morgen auf den Wecker. Es war dies einer jener Morgen, an denen man gleich nach dem Aufstehen merkt, dass an diesem Tag alles schief laufen wird, was nur schief laufen kann. Nichts Großes, sondern nur Kleinigkeiten, aber eben alle Kleinigkeiten, so dass es am Ende doch etwas Großes ist, nämlich ein versauter Tag.
Wenn man auf dem Weg ins Bad als erstes über die Türschwelle des Schlafzimmers stolpert, dann weiß man: Heute ist wieder so ein Tag, an dem Aufstehenmüssen gegen den Geist der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verstößt.
Nach weiteren schiefgelaufenen Kleinigkeiten, deren Aufzählung ich mir spare, steht man schließlich im Badezimmer seinem Spiegelbild gegenüber und man ist fassungslos, weil man sicher ist, so etwas noch nie gesehen zu haben. Man ist überzeugt, dass keine der üblichen Prozeduren dazu geeignet ist, dieses Gesicht auch nur halbwegs wieder in eine für die Begegnung mit seinen Mitmenschen geeignete Form zu bringen.
„Du hast wohl jemand anders erwartet, was?“
Von mir kam das nicht. An einem solchen Tag wäre ich um diese Zeit noch nicht einmal in der Lage, den Erfinder des Weckers mit den übelsten mir zur Verfügung stehenden Bannflüchen zu belegen, und schon gar nicht zu ironischem Wortgeplänkel. Nein, Kant war es, der sich, ich wiederhole, so äußerte: „Du hast wohl jemand anders erwartet, was?“ Aus irgendeinem Grund war es dieses nachsetzende „Was“, das mich dabei am meisten erzürnte.
„Was erlaubst du dir?“, sagte ich, vielmehr wollte ich sagen.
Denn statt eines wohltönenden, selbstbewusst Autorität versprühenden Klanges brachten meine Stimmbänder nur ein Krächzen hervor, das einem erkälteten Hahn auf dem Misthaufen alle Ehre gemacht hätte.
Da merkte ich, wie widersinnig es wäre, meine Energie, die ich um diese Zeit noch gar nicht mobilisieren konnte, dafür aufzuwenden, um diesen Kant mit einem wüsten Wutausbruch zu bedenken und ihn, wie man sagt, genüsslich zusammenzufalten. So stieß ich nur hervor: „Geh mir aus dem Wecker.“
Das hat er zum Glück nicht verstanden, so dass er keinen anderen Ausweg sah, als sich in Sprachlosigkeit aufzulösen. So war dieser Tag plötzlich und wider Erwarten für mich gerettet, weshalb ich Kant bis zum Ende aller Zeiten dankbar dafür sein werde, mir an jenem Tag auf den Wecker gegangen zu sein.