Neulich kam ich bei einem Spaziergang durch Schwabing an einem Zeichen- und Malatelier vorbei, das Interessenten Kurse anbot. Das schlussfolgerte ich aus einem Handzettel im Format DIN A4, der mit einem Klebstreifen an der Haustür angebracht war. Darauf war neben etlichen Terminen ein Foto abgedruckt, das eine klassische Atelierszene darstellte: Schüler sitzen mit ihren Blöcken um einen nackten Menschen, der in regungsloser Pose vor ihnen zu verharren hatte, die mich recht eigentümlich berührte.
Das Modell, die Form der Hüften deutete auf ein weibliches, stand mit dem Rücken zu den Zeichenlehrlingen. Es hatte fast das ganze Körpergewicht auf das linke Bein verlagert, während das rechte abgespreizt war, so das nur die Zehen den Boden berührten. Der Oberkörper war entsprechend nach links geneigt. Zu alledem kam hinzu, dass die Hände des Modells nach oben gestreckt waren.
Wie lange diese arme Frau wohl in dieser recht unbequemen Pose verharren musste, fragte ich mich besorgt. Denn ich erkannte plötzlich, dass es sich hier um einen jener Fälle handelte, in denen das tägliche Brot unter großer Mühe verdient werden wollte. Kurzum: Dieser nackte Mensch erregte mein Mitleid, und spontan wollte ich ihn bekleiden, was natürlich nur bildhaft zu verstehen ist.
„Ich beneide Menschen, die von ihrer naturgegebenen Nacktheit leben können“, ließ sich – es hätte mich gewundert, wenn es anders gewesen wäre – Kant vernehmen.
„Ich glaube nicht, dass man mit dieser Arbeit reich werden kann“, sagte ich.
„Wenn ich Mensch wäre, würde ich Aktmodell sein.“
„Unsinn! Du und nackt. Wie soll das gehen?“
„Ich denke, was ich bin, und ich bin, was ich denke.“
Das klang triftig. Dennoch unterdrückte ich eine entsprechende Kommentierung, und weil ich auch nicht den kleinsten zustimmenden Gedanken in mir aufkeimen lassen wollte, den Kant sofort vernommen hätte, dachte ich, um mich abzulenken, besonders intensiv über das harte Los von Aktmodellen in Zeichenateliers nach. Heute aber gebe ich durchaus zu, dass reines Denken und reine Körperlichkeit durchaus gut zueinander passen.
„Nackt denken hat etwas antik-griechisches an sich.“ Damit sprach Kant eben das aus, was sich in meinem Kopf zum Gedanken formiert hätte, wen ich das zugelassen hätte.
„Was du nicht sagst.“
Andererseits: Da ich mir von Kant keine körperliche Vorstellung machen konnte (und wollte), war mir auch die Vorstellung eines nackten Kants nicht möglich.
„Ich würde meine Posen kompromisslos meinem Denken anpassen, so dass die Zeichenschüler, ohne es zu ahnen, mein reines Denken…“
„Du meinst mein reines Denken,“ zwängte ich mich törichterweise dazwischen, als gelte es, sich auf Kant etwas einzubilden.
„…dein reines Denken zeichnerisch abbilden würden. Ich würde die Kraft des reinen Denkens verkörpern.“
Mich schauderte bei diesem Gedanken, der Kant hinwiederum größte Genugtuung zu bereiten schien.
„Ich würde zu gerne dabei sein, mein lieber Kant, wie du, nachdem du das Unmögliche geschafft und einen Körper angenommen hast, jeden Menschen betreffende Ereignisse mit den Posen eines Aktmodells darstellst. Du weißt, welche Ereignisse ich meine: Zeugung, Geburt, die üblichen körperlichen Verrichtungen, Tod…“
Kant schwieg sein bedeutungsvolles Schweigen, und ich setzte meinen Spaziergang fort.
Nackt, in der Badewanne hat kann man sehr gut denken – nur die Pose – da müßte ich noch dran arbeiten. Schönes WE lg Meggie
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