Kants Kritik meiner reinen Vernunft

Kant als Nützling

Mir fällt auf, dass den Schilderungen meiner intellektuellen Abenteuer mit Kant etwas Märchenhaftes eignet. Es fehlte nur, dass sie mit der Formel „Es war einmal“ beginnen. Allerdings kann ich mich an durchaus märchenhafte Momente mit Kant erinnern. So ist er mir gelegentlich nützlich, auch wenn meine Vernunft dies für völlig ausgeschlossen hält.

Als ein von literarischen Interessen geplagter Mensch überfällt mich gelegentlich der Drang, ein Gedicht, aus Rilkes „Stunden-Buch“ etwa oder von Gernhardt oder auch ein selbstgemachtes, auswendig zu lernen.

Das ist eine Betätigung, die ich sehr schätze. Wenn ich in der S-Bahn sitze und wenig Neigung zum Lesen verspüre, weil mir die Konzentration fehlt, und wenn ich mich auch nicht einem Wortsuchspiel widmen möchte, kann ich recht bequem ein Gedicht aus meinem geistigen Inneren hervorkramen, um mir damit die Zeit zu vertreiben. Natürlich bleibt es manchmal nicht aus, dass ich an irgendeiner Stelle ins Stocken gerate und mir ein Reim trotz größter Anstrengung nicht einfallen will. Das ist in einem unverschämten Maße frustrierend und in etwa der Gemütsbewegung vergleichbar, die in einem hochkommt, wenn man morgens im Schlafanzug vor die Tür geht, um die Zeitung hereinzuholen und bei der Rückkehr vor der verschlossenen Tür steht, während wie zufällig die bigotte und prüde Frau Nachbarin mit einem dich zu allen Höllenstrafen verurteilenden Gesichtsausdruck vorbeikommt und dir beim besten Willen auch nur der kleinste Ansatz von Schlagfertigkeit im Halse stecken bleibt.

So fühle ich mich, wie gesagt, wenn ich meine sämtlichen Gedächtniskammern vergeblich nach einem ganz bestimmten Reimwort absuche.

Da hat mir, ich muss es zugeben, Kant schon oft aus der Patsche geholfen, indem er als Eselsbrücke fungierte.

Hier sei mir eine kleine Abschweifung erlaubt. Das Wort „Eselsbrücke“ klingt als eines Kants unwürdig. Deshalb möchte ich seinem Gebrauch eine Erklärung beipacken. Keinesfalls liegt es im Zusammenhang mit dieser kleinen Erzählung in meiner Absicht, Kant in einem wenig günstigen Licht erscheinen zu lassen, bin ich doch ein regelrechter Fan von Eselsbrücken, was insofern bedeutsam ist, da ich mich ansonsten von Fans aller Art distanziere. Man wird mich nur ausgesprochen selten mit ausufernden Begeisterungsstürmen in Verbindung bringen können.

Ich weiß gar nicht, wie oft und bei welchen Banalitäten ich mir schon Eselsbrücken gezimmert habe, um den Schwächen meines Gedächtnisses auf die Sprünge zu helfen. Wenn ich nun mit Kant, und wann bin ich das nicht, unterwegs bin, und, falls ich nicht die erforderliche Konzentration für ein Buch aufbringen kann, versuche, ein einmal auswendig gelerntes Gedicht aus den Untiefen meines Gedächtnisses zu hieven, ist er stets mit einem außergewöhnlichen Eifer bei der Sache, als fühlte er sich zu irgendetwas herausgefordert. Dann scheint es mir, er hätte alle Gedichte, die ich je auswendig gelernt habe, selber und das schon seit unvordenklicher Zeit auswendig gelernt, und zwar so, als könnte er auf ein Stichwort zu jeder Tages- und Nachtzeit jeden beliebigen Vers fehlerfrei rezitieren. Dabei schlüpft er nicht in die billige Rolle des Souffleurs. Er nimmt mich vielmehr, um es in ein Bild zu fassen, behutsam an der Hand, indem er mir dezente Hinweise gibt und mich so auf die richtige Spur zum richtigen Reimwort führt.

Das hebt meine Stimmung, und Kant ist für einige Momente so etwas wie mein Freund.

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