1
Kant hielt schon geraume Zeit einen Teil, einen minimalen Teil, wie ich, um einem fatalen Eindruck bereits vor dessen Entstehen Einhalt zu gebieten, sofort hinzufüge – schon lange also hielt er einen minimalen Teil meines Bewusstseins besetzt, von wo aus er, seiner selbstgestellten und ungebetenen Aufgabe als kritische Instanz nachkommend, über alles wachte und alles kontrollierte, was mein Leben und mich zu dem macht, was sie sind: ich.
Einfacher, aber weniger schön formuliert: Kant trieb schon seit längerem sein Wesen in dem meinen, als mich die Nachricht erreichte, dass meine Mama gestorben war.
2
Wie fühlt sich ein Gefühl an? Woran merke ich, dass ich fühle, wenn ich etwas noch nie Gefühltes fühle? Wie erkenne ich, dass ein Gefühl ein Gefühl ist und keine Einbildung? Wie viele Gefühle gibt es? Ist es mit den Gefühlen wie mit den Farben, die sich irgendwie aus Rot, Gelb und Blau zusammensetzen, ohne dass man sie alle jemals zählen oder auch nur bezeichnen könnte?
3
Ich hatte das Gefühl, dass sich das Gefühl, das sich durch den Tod meiner Mama in mir meldete, aus mehreren Gefühlen zusammensetzte, wobei die herausragenden Komponenten Trauer und Heiterkeit gewesen sein dürften. Trauer ist verständlich. Aber Heiterkeit? Auch das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass ich ein gläubiger Mensch bin. Der Glaube schenkte mir das Wissen, dass Mama an die Erfüllung ihrer in ungezählten Gebeten ausgedrückten Sehnsucht gelangt ist. Dennoch weiß ich nicht, wie ich dieses Gefühl bezeichnen soll.
4
„In den Gefühlen spricht deine Seele zu dir“, sagte eben jener Kant, der wie gesagt schon geraume Zeit einen minimalen Teil meines Bewusstseins besetzt hielt.
5
Sollte ich jemals die Neigung verspüren, Kant als Besetzer eines minimalen Teils meines Bewusstseins akzeptieren zu wollen – um was für ein Gefühl handelte es sich dabei? Und vor allem: Was würde mir meine Seele damit sagen wollen?