Kants Kritik meiner reinen Vernunft

Kants Kritik meiner reinen Vernunft

Ich weiß nicht, ob Kants „Kritik der reinen Vernunft“ auch nur das Geringste mit „Kants Kritik meiner reinen Vernunft“ zu tun hat. Wer will, kann das hier und heute sowie an den nächsten Samstag herausfinden. Los geht’s!

Kants feindliche Übernahme

„So! Zur Abwechslung reicht es mir jetzt auch mal, und ich mache es wie ein Ausverkäufer, dass alles raus muss. Endlich. Mir steht es nämlich bis hier!“

Das war der Auftakt einer Frustrationsexplosion, die es an Wucht mit einem biblischen Fluchpsalm aufnehmen konnte. So stand ein mächtiges, zorngetränktes „So!“ am Anfang meiner Beziehung zu Kant und seiner zu mir, und das kam nicht anders als so.

Ich muss noch vorausschicken, dass es mir schwerfällt, diese, die erste Episode aus meinem Leben und Erleben mit Kant zu erzählen, weil mir für die Gefühlsregungen, die mich damals heimsuchten, die passenden Worte fehlen. Derartiges habe ich bis dahin noch nie gefühlt.

Es war wie beim durchaus geschätzten, aber nicht unbedingt verehrten Goethe. Denn auch ich ging eines Tages, allerdings nicht im Walde, sondern in der Stadt so für mich hin, und mein Sinn war, was ebenfalls mit Goethes Gedicht übereinstimmt, nicht auf Suchen eingestellt.

Ich spazierte auf der Wolke eines jener Augenblicke, die man nicht ersehnen, aber umso mehr genießen kann. Größtmögliches Wohlbehagen hatte in mir Platz gegriffen, wie es mich sonst nur im Dampfbad des Müllerschen Volksbades in München überwältigt, wenn ich nach Dampfraum und Kaltwasserbecken ins warme Wasser eintauche. So würde sich ein Kartoffelknödel fühlen, der sich mit wohlschmeckendem Bratensaft vollsaugt, wenn er denn fühlen könnte. Wie gesagt, kann ich nicht in Worte fassen, was und wie ich an jenem schicksalsschweren Tag fühlte. Derlei fühlte ich bis dato nicht.

Mit einem Mal jedoch nahm ich Vorboten eines völlig deplazierten Unbehagens in mir wahr, und Immanuel Kant kam mir in den Sinn.

Es kommt einem so einiges unaufgefordert in den Sinn, wovon gewiss jeder ein Lied singen kann, Ohrwürmer zum Beispiel. Allerdings ist Immanuel Kant von einem Ohrwurm so weit entfernt wie ich von ihm. Aber ausgerechnet er kam mir plötzlich in den Sinn. Er setzte sich wie eine Idee der fixen Art in meinem Oberstübchen fest und nötigte mir im Moment größter Wonne die Erkenntnis ab, dass ich ihn nicht begreife, nie begriffen habe und nie begreifen werde, was mir nach dem anklingenden Moment des Unbehagens gleich wieder Ruhe und Trost verschaffte. Denn die Erkenntnis, etwas nicht zu wissen, ist derjenigen, etwas zu wissen, durchaus ebenbürtig. Hinzu kam die Gewissheit, dass ich ihn auch gar nicht zu verstehen brauchte und ich mich nicht zu schämen hätte, wenn ich ab sofort bei der Erwähnung seiner Heimatstadt Königsberg an Klopse und nicht an ihn dächte.

Ding an sich, die Anschauungsformen Raum und Zeit, synthetische Urteile apriori, kategorischer Imperativ, den uns Kant in unterschiedlichen Versionen hinterlassen hat, und der schon deshalb gar nicht so kategorisch sein kann – alles das verdichtete sich in mir plötzlich zu der Frage: Wie kann man nur derart ungemütlich denken? Und auch rücksichtslos, weil es so weit hergeholt ist und einem wie mir deshalb im vollen Umfang eigentlich wurscht sein kann. Niemals würde ich auf die Idee kommen und einem synthetischen Urteil, ob apri- oder aposteriori, hinterher jagen, und, wenn ich eines erhascht hätte, „Heureka!“ rufen, nur um dann eine Kritik der reinen Vernunft schreiben zu können, und für die Anwendung des kategorischen Imperativs auf mein Leben kommt mir dieser doch viel zu unbedeutend vor.

Solche befreienden Gedanken waren es, die die erwähnten Vorboten eines Unbehagens in Schach hielten. Aber tief in mir rumorte diese seltsame Mixtur aus Unruhe und Angst, dieses Gefühl zwischen hungrig und satt, zwischen Alarm und Angriff, zwischen schwanken und stürzen, zwischen nackt und bloß weiter. Es schien, als würde dieses Zwischengefühl wie eine Infusion in mich tröpfeln, um Konsistenz und natürlichen Verlauf meiner Körpersäfte zu beeinflussen, was schließlich mein seelisches Immunsystem auf den Plan rief. Ungebetener Einflussnahme gegenüber pflege ich seit jeher eine weitestgehend feindliche Einstellung. Ich trotzte.

Ich besah meine Mitmenschen. Ob sie etwas von meinem moratoriumähnlichen Zustand bemerkten? Das schien gottlob nicht der Fall zu sein. Zu sehr waren sie mit ihrer die Sinne abstumpfenden Alltäglichkeit beschäftigt, um auch nur einen weiteren, und sei es ihren siebten, zur Wahrnehmung meiner Befindlichkeit erübrigen zu können.

Das brachte mich wieder in eine etwas weniger schräge seelische Schräglage. Doch bevor ich mich wieder vollends vom Wohlsein überwältigen lassen konnte, vernahm ich ein rhythmisches bumbumartiges Geräusch, als würde ein Medizinball eine Treppe herabplumpsen. Dem folgte ein kurzer gespenstischer Augenblick absoluter Stille, nach dem jemand in mir losbrüllte, so dass meine sämtlichen Fluchtreflexe die Flucht ergriffen und mich schutzlos einer Gefahr überließen, deren Ausmaße, wie ich damals vermutete, übermenschlich sein mussten.

„So!“ brüllte es in mir, das erste Wort, mit dem Kant, den ich natürlich noch nicht so nannte, in meine bis dato einigermaßen schiedlich-friedliche, wenn auch vorübergehend sich mulmig anfühlende Existenz trat, und er brüllte „So!“, weil er aus irgendeinem Grunde außer sich war. Wie ich nur so vergnügt sein könne, warf er mir, dem Mulmigen, vor, während so viele Probleme da draußen – er sagte „da draußen“, was bei einem wie ihm einen ironischen Beigeschmack hat – der Lösung harrten. Er hingegen sei nicht zu seinem Vergnügen an meine Seite gestellt worden, eine Vorstellung, die das meine auf der Stelle völlig zum Erliegen brachte.

So ließ er passend Dampf ab, wie nur jemand Dampf ablassen kann, und ich ließ ihn gewähren, weil ich eh keine andere Wahl hatte. Irgendwann gab er schließlich Ruhe. Was war das?

Verzweifelt schürfte ich in meinem Gedächtnis nach einem Ohrwurm oder einem anderen geeigneten Mittel, um mein Denkvermögen zu paralysieren, um es von dem Erlebten abzulenken. Auf der Stelle wollte ich es wieder vergessen. Deshalb gebot mir meine Intuition, jetzt keinen auch nur halbwegs vernünftigen Gedanken zu denken, der dieses Zwischenwesen, oder was dieser Kant eben war, in mir wieder hätte vitalisieren können. Ich wollte diesen Augenblick des körperlichen Wohllebens und zugleich des intellektuellen Grausens unverzüglich ausrotten, weshalb ich mich mit ganzer Kraft dem großstädtischen Verkehrsgewühl auslieferte, was mich tatsächlich ablenkte.

Der Erfolg war jedoch nur vorübergehend. Denn diese Begegnung mit Kant war nicht eine, es war vielmehr die erste. Wie ein Bischof von seinem Bistum Besitz ergreift, so hat Kant damals von mir Besitz ergriffen. Glaubt es oder glaubt es nicht. Später, als ich erkennen musste, dass er sich auf Dauer in mir eingenistet hat, gab ich ihm den Namen „Kant“, weil es Immanuel Kant war, dessen Denkwürdigkeiten mir gerade durch den Kopf gingen, als mich jenes „So!“ aus meiner philosophisch verbrämten Lethargie, wie sie typisch ist für meine individuelle Dualität aus Körper und Geist, gerissen hat.

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